Ludwigshafen ist eine vergleichsweise junge Stadt, sie hat aber zahlreiche interessante und hintergründige Geschichten zu erzählen. An dieser Stelle soll zukünftig die Vergangenheit eines besonderen Gebäudes oder Ortes in Ludwigshafen vorgestellt werden, um die Stadtgeschichte und das Zeitgeschehen anhand eines Beispiels zu veranschaulichen. Den Anfang macht die markante Westendsiedlung: Sie ist ein Symbol für den Aufbruch in das Zeitalter des modernen sozialen Wohnungsbaus.

Die unter Denkmalschutz stehende, rund 30 Hektar große Siedlung mit der auffälligen Fassade lag zur Zeit ihrer Erbauung am Rande der Stadt. Ludwigshafen besaß zu diesem Zeitpunkt noch nicht die heutigen Ausmaße und war noch keine 80 Jahre zuvor erstmals zur Gemeinde ernannt worden. Gebaut wurde die spiegelsymmetrische Siedlung in den Jahren 1929 und 1930 um den damaligen Messplatz am westlichen Ende der Innenstadt von der 1920 gegründeten Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Wohnungsbau (GAG). Unter der Leitung des in Rumänien geborenen Architekten Markus Sternlieb, seit 1926 technischer Vorstand der GAG , wurde das Projekt in zwei Jahren realisiert.

Sternlieb wollte die architektonische Gestaltung Ludwigshafens verbessern und engagierte sich insbesondere für sozialpolitische Belange. Mit Rücksicht auf die Lebenslagen von Arbeitern mit geringem Einkommen betrachtete er es als seine Aufgabe, bezahlbaren und guten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Damit war Sternlieb ein Kind seiner Zeit, denn während der Weimarer Republik stand die Frage nach günstigem Wohnraum für einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger im Zentrum der Sozialpolitik, um der Wohnungsnot gerade in Arbeitervierteln zu begegnen, in denen oftmals schlechte Lebensbedingungen herrschten.

Der Zeitpunkt für das Projekt Westendsiedlung schien auf den ersten Blick ungünstig, denn unter dem Einfluss der Ende der 20er Jahre beginnenden Weltwirtschaftskrise hatten sich die Bedingungen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau verändert. Das zeigte sich insbesondere durch eine Senkung staatlicher Leistungen - im Rahmen einer verordneten Sparpolitik mussten Baukosten verringert werden. Für die GAG war die Zeit bis Ende der 20er Jahre jedoch eine der finanziellen Stabilität. Große Bauprojekte wurden in Ludwigshafen unter anderem aufgrund der Förderung durch den bayrischen Staat, der Gemeinde oder durch Verträge mit Arbeitgebern zur Baufinanzierung ermöglicht. Zum Zeitpunkt des zehnjährigen Jubiläums der GAG 1930 war die Gesellschaft finanziell solide ausgestattet.

Funktionalistische Architektur

Die Westendsiedlung ist nach dem Vorbild funktionalistischer Architektur entstanden – eine Art des Bauens, die sich in erster Linie nach dem Verwendungszweck richtet, statt das Gewicht auf ästhetische Gestaltung zu legen. Sternliebs vorrangige Frage war, wie Wohnraum optimal genutzt und wie das Wohnen möglichst praxisorientiert gestaltet werden kann. Die nach diesem Prinzip errichteten neuen Bauten waren Beispiele für eine neue städtische Wohnkultur, nüchtern und gleichförmig, aber dennoch vollständig durchdacht.

Vorbild für Sternlieb waren die architektonischen Gestaltungsprinzipien der Bauhaus-Schule. Deren Gründer Walter Gropius hatte sich in den 20er Jahren mit großen Wohnsiedlungen beschäftigt, um rationale Lösungen für die bestehenden Probleme in der Stadtentwicklung zu finden. Der wegweisende Bauhaus-Stil ist auch in der Westendsiedlung erkennbar. Die fünfgeschossigen, kubischen Gebäude wurden streng symmetrisch geplant, keine überflüssigen Verzierungen oder Ornamente schmücken die Fassaden aus rotem Backstein. Dennoch haben sich die Richtlinien der Bauhaus-Schule hier nicht vollständig durchgesetzt. Das streng Serielle wird beispielsweise durch unterschiedlich große Fenster gebrochen, insbesondere auch durch die weithin sichtbare Uhr im Innenbereich der Südseite, ein Symbol des Industriezeitalters und der strengen Reglementierung von Lebenszeit in Arbeit und Freizeit.

Die neue Wohnkultur

Man muss sich vor Augen halten, dass die meisten Wohnungen der damaligen Arbeiterquartiere in Ludwigshafen bis zu diesem Zeitpunkt schlechte hygienische Bedingungen boten. Die Wohnungen der Westendsiedlung besaßen demgegenüber zwar nur eine durchschnittliche Größe zwischen 35 und 50 Quadratmetern, dennoch waren sie für die damaligen Verhältnisse äußerst fortschrittlich, denn Sternlieb war es daran gelegen, relativ hohen Komfort zu bieten. So war es zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit, dass jede Wohnung ein eigenes Bad und WC besaß, wie dies in den Wohnungen der Siedlung der Fall war. Die Raumnutzung war so ausgelegt, dass es durchschnittlich Platz für eine vierköpfige Familie gab, neben Bad und Wohnzimmer gab es je ein Schlafzimmer für Eltern und Kinder. Wohn- und Schlafraum waren demnach getrennt, was einerseits hygienischere Lebensbedingungen ermöglichte, andererseits dem Arbeitsrhythmus vieler Arbeiterinnen und Arbeiter, die Nachtschichten absolvieren mussten und tagsüber Erholung brauchten, entgegenkam.

Sternliebs Ambitionen gingen jedoch noch weiter, sie erstreckten sich auch auf die Inneneinrichtung und das Mobiliar. So demonstrierte er mit einer Ausstellung von Musterwohnungen, in denen schlichte, günstige und zugleich solide Inneneinrichtungen gezeigt wurden, den Hang zu einer geschmacklichen Erziehung künftiger Bewohner. Zudem gab es in der Siedlung eine Besonderheit, denn bei einem Großteil der Wohnungen wurden Küchen nach einem Modell eingebaut, das zur damaligen Zeit eine Neuheit darstellte und bis heute Vorbildfunktion hat: die sogenannte Frankfurter Küche, 1926 von der aus Wien stammenden Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entworfen. Diese kompakt gehaltene Urform der modernen Einbauküche, in den 1920er Jahren aufgrund von Platzmangel oft in Sozialwohnungen eingeplant, war eine Art Spiegel der industriellen Arbeitsweise. Die räumliche Aufteilung sollte durch Übersichtlichkeit und kurze Wege ermöglichen, dass alle Geräte und Nahrungsmittel schnell erreicht werden können. Das Arbeiten in der Küche wurde effektiver. Das Ziel war Zeitersparnis, denn Frauen mussten sich neben der Hausarbeit um die Kinder kümmern und oftmals zusätzlich einer Arbeit nachgehen.

Die Westendsiedlung heute

Die GAG hat im Jahr 2000 begonnen, die Siedlung umfassend zu modernisieren und den veränderten Ansprüchen urbanen Wohnens anzupassen. Eine energetische Sanierung, die Vergrößerung der Wohnungen, ergänzte Balkone, Gemeinschaftsanlagen und eine großflächige Begrünung haben den ursprünglichen Charakter der Siedlung jedoch nicht verändert.