Die Autorin und Übersetzerin Olga Bragina aus der Ukraine war von April bis Juli 2022 Künstlerin in Residenz des Kulturbüros Ludwigshafen. Die Residenz kam in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation "Artists at Risk" zustande, welche Künstler*innen unterstützt, die von Unterdrückung, Krieg oder Terror bedroht sind.

Olga Bragina hat vier Gedichtbände veröffentlicht, eine Prosasammlung und einen Roman. In einem Interview sprach sie mit uns über ihre Arbeit, aber auch ihre Beziehung zur russischen Sprache und zu jenen Bezugspersonen, die bis heute in der Ukraine verblieben sind. Das Interview spiegelt Olga Braginas Positionen und Erfahrungen wider. Wir führten es am 15. Juni 2022.
 

Interview

Wie fühlen Sie sich damit, in Altrip zu sein?

Es ist eine sehr gemütliche Kleinstadt, die 369 von Römern am Rhein erbaut wurde. Es gibt hier viele Blumen und viele Menschen haben Haustiere; die Leute hier wissen, dass wir Ukrainerinnen sind und heißen uns willkommen; das ist angenehm.

Haben Sie es geschafft, sich einzugewöhnen? Was hilft Ihnen dabei, was macht dies schwierig?

Familie Pinner-Antoni hat uns in ihrem Haus aufgenommen, nachdem das Kulturbüro uns nach Deutschland eingeladen hatte. Dies war gemessen an der Kriegssituation sehr hilfreich für uns.

Haben Sie nach wie vor Kontakt zu Freund*innen und Familie in der Ukraine? Wie geht es ihnen?

Mein Vater und Bruder leben in Kiew und gehen zur Arbeit. Viele Freund*innen sind Freiwillige und helfen dem Militär, manche von ihnen sind Soldaten geworden.

Welchen Eindruck haben Sie von der kulturellen Infrastruktur in Ludwigshafen und der Region?

Es gibt hier eine sehr aktive Infrastruktur; die Leute interessieren sich sehr für Literatur: Zum Beispiel mochte ich den Poetry Slam im Kulturzentrum dasHaus am 30. April. In unserem Dorf Altrip gibt es eine Kunstgalerie.

Schreiben Sie Gedichte und Prosa oder fokussieren Sie sich auf Gedichte? Was haben Sie bislang veröffentlicht?

Ich schreibe Gedichte, habe aber auch den Roman „Die Pelikane“ auf Ukrainisch verfasst. Insgesamt habe ich vier Gedichtbände veröffentlicht, eine Prosasammlung und einen Roman.

Wann fingen Sie an, zu schreiben, und was brachte Sie dazu?

Ich fing während der Schulzeit an, zu schreiben, wobei ich es spannend fand, Reim und Handlung miteinander zu kombinieren. Heute schreibe ich hauptsächlich in freien Versen, ohne dass sich meine Gedichte an irgendein Schema halten.

In welchen Sprachen schreiben Sie?

Ich schreibe auf Russisch und Ukrainisch.

Wer sind Ihre Vorbilder?

Eventuell ist Zinaida Gippius mein Vorbild: eine Poetin, Prosa Autorin, Kritikerin und Feministin. Sie emigrierte vor hundert Jahren nach Europa; letzte Woche haben wir Wiesbaden und den Berg besucht; dort in der Nähe lebte sie in einem Hotel.

Gibt es eine Inspirationsquelle für Ihre Gedichte? 

Früher wurde ich durch Literatur und Weltkultur inspiriert, aber heutzutage ist meine Hauptinspirationsquelle die Realität.

Was genau geschieht, wenn Sie Gedichte verfassen? Welchen Ansatz haben Sie dabei? Könnten Sie diesen Prozess skizzieren?

Ich bekomme eine Idee und entwickele diese dann. Wenn ich anfange, ein Gedicht zu verfassen, weiß ich noch nicht, wie dieses enden wird: Das Gedicht erschafft sich selbst.

Übersetzen Sie Ihre Gedichte selbst ins Englische?

Nein, meine Gedichte werden von anderen Poet*innen und Übersetzer*innen übersetzt.

Haben Sie zu Ihren Gedichten Reaktionen von Ihren Leser*innen erhalten?

Ich bekomme in erster Linie Reaktionen über das Internet, vor allem Facebook.

Wie viele Menschen in der Ukraine sprechen Russisch?

Vor dem Krieg lag der Anteil bei 47%, aber aktuell ändern viele Menschen ihren Bezug zum Russischen.

Wie gestaltet sich Ihre Beziehung zum Russischen und Ukrainischen? Hat Ihre Beziehung zu diesen Sprachen sich seit Kriegsbeginn/Invasionsbeginn gewandelt?

Dies sind trotz irgendwelcher verrückter Diktatoren beides meine Muttersprachen. Die russische Sprache gehört nicht allein der Russischen Föderation.

Welche Hoffnungen haben Sie für die Zukunft?

Meine größte Hoffnung ist, dass der Krieg sobald wie möglich endet, und zwar mit unserem Sieg.
 

Auszug aus dem Werk von Olga Bragina

Russisches Original (Kiew, 2016)

зачем тебе помнить Киев восьмидесятых
белые стены церквей стерильно чистые окна
пустота молчание белый цвет бинтов первая свежесть асфальта
горячего асфальта среднепрожаренного битума
зачем тебе помнить где эта газировка без воды пирожные безе чистотела
ты застрянешь здесь навсегда будешь перебирать старые фото вот ты до рождения
пробираешься мимо героев революции теплых столпов самодержавия родимых осин
зачем тебе помнить Киев теперь столько не живут не любят мертвых не рвут тетради
мутную взвесь подольского масла Аннушка разлила
зачем тебе помнить кто жил в этом доме любимого цвета императора Николая
рассказывал сказки дворникам рассказывал сказки друзьям
детства не признавшим через столько лет никто не помнит тебя
здесь проходит демаркационная линия жизнь под местным наркозом
то чему нет названия но зачем тебе помнить Киев восьмидесятых разделять на до и после
часослов герцога Беррийского загибать страницы стачивать корешки
любовь не лжет не милосердствует не заканчивается не начинается только горячий асфальт
дефицит желудей картофельных очистков воды из крана
морской соли для ванн счастливых людей в метро
зачем тебе помнить

Deutsche Fassung aus dem Englischen von Viktoria Helene Ong

ich wüsste nicht, wieso du dich an das kiew der 1980er jahre erinnern solltest:
die weißen mauern, die sterilen fenster der kirche,
die hohle Stille, die fetzen weißer bandagen und frischer asphalt
aus noch heiß brennender halbfertiger bitumenmasse.
wieso du dich an den leeren sprudelwasser automaten erinnern solltest, diese butterblumen und den baiser.
du wirst auf ewig darin verharren, durch alte fotos zu blättern: hier ist eines von dir direkt vor deinem geburtstag.
an den helden der revolution, an den warmen säulen der autokratie, schleichen die symbole des heimatlandes vorbei.
ich wüsste nicht, wieso du dich an kiew erinnern solltest, nun da niemand lebt, um die toten zu lieben oder notizbücher zu zerreißen.
und an das trübe öl des stadtteils podol, das annushka vergossen hat.
ich wüsste nicht, wieso du dich an das haus erinnern solltest, das kaiser nikolais lieblingsfarbe hatte.
diejenigen, die dem hausmeister und kindheitsfreunden geschichten erzählten,
die erkannten dich, erinnerten sich nach all‘ diesen jahren vielleicht auch nicht an dich.
hier vergeht ein demokratisches leben in lokalanästhesie.
etwas mit keinem anderen namen als: „wieso du dich an das getrennte kiew der 1980er jahre erinnern musst“, das zwischen vorher und nachher unterteilt ist 
wie gefaltete Seiten im buchrücken von herzog von berrys Stundenbuch.
liebe ist rastlos und unfreundlich, sie endet oder beginnt nicht. nur der brennende asphalt,
die fehlenden kartoffelschalen, eicheln und leitungswasser,
fehlendes badesalz und optimistische leute in der U-Bahn – beginnen.
ich wüsste nicht, wieso du dich erinnern solltest.

Kommentar: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die im Original nicht vorhandenen Satzzeichen im Deutschen zu ergänzen, um den Lesefluss und das Verständnis des Gedichtes zugänglicher zu gestalten. Um dennoch einen vergleichbaren Effekt zu erzielen, haben wir konsequent alle Großbuchstaben durch Kleinbuchstaben ersetzt.

Das Interview zum Gedicht

Dieses Gedicht spielt heute, obwohl es auch das Kiew der 1980er Jahre behandelt. Wie passt dies zusammen?

Zeit ist nicht linear: die gegenwärtige Stadt beinhaltet unsere Erinnerungen an sie.

Von allen möglichen Settings: Wieso das Kiew der 1980er Jahre?

Es ist die Stadt unserer Kindheit.

Was haben "sprudelwasser automaten" mit Kiew zu tun?

Frisches Wasser und Wasserautomaten waren typisch für die Sommer in Kiew.

Sie schreiben von "helden der revolution". Dachten Sie an jemanden besonderes, während Sie diese Verse schrieben?

Bezogen auf unsere Kindheit spreche ich von den Figuren der Revolution von 1917. Bezogen auf die 2000er gab es in der Ukraine nicht viele Revolutionen, auch wenn neue Held*innen hinzukamen.

Im selben Vers schreiben Sie von "säulen der autokratie" und erwähnen "symbole des heimatlandes". Wie würden Sie "Autokratie" beschreiben und welches Land ist das "heimatland"?

Autokratien sind die Autoritäten aus unserer sowjetischen Kindheit. Das Heimatland ist die Ukraine.

Sie erwähnen häufiger bekannte Persönlichkeiten in Ihren Gedichten: so zum Beispiel "Kaiser Nikolai" und den "Herzog von Berry". Warum erwähnen Sie diese?

Kaiser Nikolai war ein russischer Kaiser, der im Kiew der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Häuser und einen Palast bauen ließ. Der Herzog von Berry ließ im 15. Jahrhundert ein pompöses Stundenbuch anfertigen: ein ausgefeiltes Manuskript in der Spätphase des internationalen gotischen Stils. In meinem Gedicht verweise ich durch sie auf unsere Erinnerungen an das Kiew der Vergangenheit.

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken und sich Ihre aktuelle Situation im Vergleich zu jener in der Ukraine vergegenwärtigen, wie ist Ihr Umgang mit Ihren "kindheitsfreunden"?

Ich habe die meisten viele Jahre nicht gesehen. Ein paar von ihnen verließen nach ihrem Uniabschluss das Land. Mit anderen habe ich nicht mehr viel gemeinsam.

Am Anfang Ihres Gedichts haben Sie Bilder miteinander kombiniert, die nicht zusammen zu passen scheinen: "bitumenmasse", "sprudelwasser automaten" und "butterblumen". Dasselbe geschieht in den letzten Versen Ihres Gedichts: "der brennende asphalt, | die fehlenden kartoffelschalen, eicheln und leitungswasser, | fehlendes badesalz und optimistische leute in der U-Bahn". Was ist den ersten und den letzten Versen gemeinsam und wofür stehen diese Bilder?

Wir wuchsen in Zeiten auf, in denen es an den notwendigsten Dingen fehlte; die meisten Leute waren schlecht gelaunt, weil ihnen keine positive Zukunft blühte. Es scheint als wäre es besser, diese Zeiten zu vergessen, aber sie waren unsere Kindheit, die dennoch viel versprach.