Mit der raschen Industrialisierung im Ludwigshafen des späten 19. Jahrhunderts konnte die Entwicklung der Stadtgesellschaft kaum mithalten. Als Reaktion auf die sozialen Verhältnisse im Hemshof wurde 1885 die Stadtmission von Protestanten ge­gründet. Zu ihren Aufgaben gehörte neben dem Missionieren die Not der arbeitenden Bevölkerung zu lindern. Zwei Gebäude, die heute noch vorhanden sind, zeugen von dieser Initiative, die nicht nur in nördlichen Stadtteil auf fruchtbaren Boden fiel.

Wer sich heutzutage in der Böhlstraße im Hemshof aufhält, dem fallt vielleicht das Eingangsportal eines ansonsten recht unscheinbaren Gebäudes auf. Im sogenannten Tympanon, dem Feld über dem Türsturz, ist ein Zitat aus der Bibel zu erkennen: "Suchet der Stadt Bestes" ist dort zu lesen, darunter "A.D. (Anno Domini) 1885". Das Gründungsdatum des Gebäudes ist ein Verweis darauf, dass es eines der ältesten im Hemshof ist und das letzte von historischer Bausubstanz in dieser Straße. Was das Gebäude auf den ersten Blick allerdings nicht verrät ist, dass es in der sozialgeschichtlichen Entwicklung des Hemshofs eine bedeutende Rolle gespielt hat. Denn diakonische Arbeit ist auch immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse gewesen.

Schwierige Verhältnisse im Hemshof

Die 1880er Jahre im Hemshof waren geprägt von einer hohen Wachstumsrate der Bevölkerung. Ludwigshafen war eine aufstrebende Industriestadt, nicht nur die Badische Anilin- und Sodafabrik, auch andere Industriewerke siedelten hier an und begannen, die Geschichte der Industrialisierung voranzutreiben. Das wirtschaftliche Wachstum lockte zahlreiche Arbeiter'finnen nach Ludwigs­hafen, auf die die junge Stadt zunächst noch gar nicht eingestellt war. Es fehlte vor allem neben bezahlbarem und guten Wohnraum eine funktio­nierende Stadtgesellschaft. Die Lage war gerade für Arbeiterfamilien nicht leicht, denn Armut, schlechte Krankenversorgung und soziale Unruhen durch harte Arbeitsbedingungen sorgten für schwierige soziale Verhältnisse, und staatliche soziale Einrichtungen oder gar eine Sozialgesetzgebung fehlten zu diesem Zeitpunkt noch. Neben dem karitativen Engagement der Kirchen nutzten diese auch das aufkommende Vereinswesen, um den christlichen Glauben verstärkt in der Stadt zu verankern und positive Impulse für das Gemein­wesen zu setzen.

Anfänge im Gasthaus

Um der Misere unter den Arbeiter'finnen zu begeg­nen, veranstaltete der damalige protestantische Stadtvikar Wilhelm Rupp im Frühjahr 1883 im Saal eines Gasthauses zwei Mal in der Woche Bibelstunden, die dem Wunsch der protestantischen Gemeindemitglieder nach kirchlichen Veranstal­tungen auf dem Hemshof entsprach, denn viele scheuten den Weg in die entlegene Lutherkirche. Doch geistlicher Zuspruch allein konnte keineswegs die Lösung sein, konkrete Hilfe musste geleistet werden. Daher schuf der nachfolgende Stadtvikar Heinrich Noé die Grundlage für die erste Lud­wigshafener Stadtmission. Es sollte darum gehen, neben der missionarischen Tätigkeit Arbeiterfa­milien eine Entlastung und Interessierten Raum für Begegnungen anzubieten. Gegründet wurden zunächst im Januar 1885 zwei Einrichtungen für Kleinkinder ( damals noch „Kinderbewahranstal­ten" genannt), im selben Jahr ein „Christlicher Männer- und Jünglingsverein" sowie ein „Frauen- ­und Jungfrauenverein''. Träger dieser Vereine wurde der vom Stadtvikar gegründete Stadtmissions­verein Ludwigshafen AY., der seit Mai 1885 auch gerichtlich anerkannt wurde.

Ungeahnter Zuspruch

Die angebotenen Veranstaltungen erfuhren großen Zuspruch, offenbar war es vielen Menschen ein Bedürfnis, einen Gegenentwurf zum harten Arbeits­alltag zu finden und sich dem christlichen Glauben zuzuwenden. Über das soziale Engagement hinaus sollte allerdings nicht der missionarische Grundgedanke der Stadtmission vergessen werden, wie er sich insbesondere in den Satzun­gen verdeutlicht, so unter Paragraf 2: ,,Zweck des Ver­eins ist: Erhaltung und Pflege von Religion und christlicher Sitte aufgrund des Wortes Gottes in den verschiedenen Klassen und Altersstufenunseres Volkes im Einvernehmen mit unserer pro­testantisch-evangelisch-christlichen Kirche." Von der pietistisch-konservativen Bewegung inspi­riert, stellte der Geist der Stadtmission den frommen Menschen und seine an den christlich-protestantischen Werten orientierte Lebensführung in den Vordergrund.

Zwei Häuser werden gebaut

Der Saal des Gasthauses war mitt­lerweile zu klein geworden, der Vikar strebte den Bau eines Stadt­missionshauses nach dem Vorbild anderer Städte an. Spendengelder ermöglichten den Kauf des Bauplat­zes in der Böhlstraße, ebenso den Bau des neuen Gebäudes, der vonder Firma Gehr. Hoffmann durchUrsprünglich hatte das Gebäude zwei Stockwerke, das dritte wurde fünf Jahre später gebaut. Zum Haus gehörte eine im selben Jahr fertiggestellte Kapelle im Bereich des Hinterhofs, die auch heute noch dort zu finden ist und in der bis zur Einweihung der Apostelkirche 1894 Gottesdiens­te abgehalten wurden. Die Kapelle befindet sich nicht mehr im Originalzustand, sie wurde 1978 erneuert. Das Stadtmissionshaus war nun Zent­rum aller Angebote und Veranstaltungen und die Zahl der Mitglieder wuchs rasch. Die Betreuungs- und Bildungsangebote waren vielfältig: von Kindergärten, Sonntagsschulen für schulpflichtige Kinder, Jugendgruppen mit Angeboten zu Lesungen, Turnen, Gesang und eine Bibliothek bis hin zu Grup­pen für junge Männer oder Näh- und Strickschulen für Mädchen und junge Frauen. Am 11. November 1885 war es dann soweit und die Einweihung konnte stattfinden. Auch wenn die Trennung nach Geschlechtern aus heutiger Sicht befremdlich wirkt, so bot die Stadt­mission in entbehrungsreichen Zeiten einen Rahmen für Bildung und soziale Begegnung. Auch in Süd wuchs die Arbeit der Stadtmission, hier entstand 1907 das Stadtmissionshaus in der Pranckhstraße , um auch hier dem wachsenden Zulauf an Interessierten einen Ort zu geben. Beide Häuser wurden im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe teilweise zerstört, im September 1943 brannte ein großer Teil des Hauses in der Prankhstraße aus, hier blieb das Erdgeschoss verschont. In der Böhlstraße wurde das Gebäude weitaus geringer beschädigt, hier war nur das Obergeschoss betroffen, das von den Anwohner''innen selbst wieder instand gesetzt werden konnte.